„ … jene Herren Beobachter, welche hierzu Lust und Musse haben … “

Phänologie und Citizen Science in Österreich seit 1851

Helfried Scheifinger, Christa Hammerl, Thomas Hübner, Elisabeth Koch, Hans Ressl, Markus Ungersböck, Philipp Hummer, Klaus Wanninger

Abstract

Die Phänologie ist die Lehre der „Erscheinungen“ oder die Wissenschaft des saisonalen Zyklus der Pflanzen und Tiere. . Sie beschäftigt sich mit den periodisch wiederkehrenden Wachstums- und Entwicklungserscheinungen in der belebten Umwelt, wie beispielsweise dem Zeitpunkt der Entfaltung der Blätter der Laubbäume oder des Maitriebs der Fichte oder  der Rückkehr der Zugvögel im Frühling, dem Beginn der Reife der Marille im Sommer oder dem Beginn der herbstlichen Blattfärbung. Hier wird ihre Geschichte aus der Perspektive der Persönlichkeiten nachgezeichnet, welche die Phänologie in Österreich prägten. Dabei geht es weniger um die wissenschaftlichen Leistungen, sondern um die Einrichtung und den Betrieb der phänologischen Beobachtungssysteme und die Anwerbung und Motivation der freiwilligen Beobachter.

Die heutige Existenz der Phänologie an der GeoSphere Austria[1]  (www.geosphere.at) kann als Ergebnis einer greifbaren geschichtlichen Entwicklung, aus dem Zusammenspiel sehr unterschiedlicher und kontingenter Elemente verstanden werden. Personen, Institutionen, technische Gegebenheiten, Offenheit für Wissenschaft in der gebildeten Bevölkerung, fügten sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts derart, dass das erste längerfristige und koordinierte phänologische Beobachtungsnetz in Österreich eingerichtet und betrieben werden konnte. Der Einstieg erfolgte mit der Gründung der Centralanstalt für Meteorologie und Erdmagnetismus 1851. Karl Fritsch (1812–1879), Adjunkt und später Vizedirektor der ZAMG, schuf das erste meteorologische und phänologische Beobachtungsnetz der Monarchie, verfasste und verbesserte die Beobachtungsanleitungen und betreute die Beobachter. Das Beobachtungsnetz wurde nach seinem Tod im Jahr 1879 aufgelassen. Erst 50 Jahre später wurden wieder phänologische Beobachtungsnetze in Österreich unter Einbeziehung von Schulen eingerichtet. Die meisten Daten aus dieser Zeit sind kriegsbedingt verloren gegangen. Unter Maria Roller (1916 – 1986) und Friedrich Rosenkranz (1900 – 1957) erfolgte die Gründung des aktuellen und heute noch aktiven phänologischen Beobachtungsnetzes nach dem Krieg ab 1946. In diese Periode fällt auch die höchste Stationsdichte von knapp 500 Stationen. Die geschichtliche Beschreibung schließt mit der aktuellen Phase seit 1987 und den seitdem erfolgten massiven technischen Neuerungen.

Die Meteorologie und die Phänologie waren vor allem in der Anfangszeit auf die Mitarbeit von Freiwilligen angewiesen. Daran hat sich für die Phänologie bis heute nichts geändert. Die Anwerbung, Motivation und Ausbildung der freiwilligen Beobachter stellt die wichtigste Aufgabe beim Betrieb phänologischer Beobachtungsnetze dar. Technische Errungenschaften unterstützten die phänologische Beobachtungspraxis und Forschung. Die Problematik des menschengemachten Klimawandels motivierte „data rescue“-Projekte, die darauf abzielten, phänologische Informationen aus Archiven der Wissenschaft zugänglich zu machen. Die Phänologie konnte sich in ihrer vielleicht wichtigsten Funktion für die Gesellschaft, nämlich als Indikator für den Klimawandel, etablieren. Nachdem ein Fortschreiten der Temperaturerhöhung zu erwarten ist, bleibt auch die Bedeutung der Phänologie als Indikator für den Klimawandel erhalten.

Einleitende Gedanken

Wissen Sie, dass Sie die Wirkung des Klimawandels auf Pflanzen und Tiere in Ihrem Garten selbst beobachten können? Sie möchten erfahren wie? Mit Hilfe der Phänologie, die sich mit dem saisonalen Zyklus der Pflanzen und Tiere beschäftigt und mit der dazugehörigen Smartphone-App „Naturkalender“ (www.naturkalender.at). Mit Ihren Beobachtungen helfen Sie nicht nur der Wissenschaft, sondern schärfen Ihre Beobachtungsgabe und werden mit der jahreszeitlichen Abfolge der phänologischen Ereignisse vertraut. Ihre Beobachtungen können Sie schließlich in den Kontext langer Beobachtungsreihen[2] einordnen und die Wirkung des Klimawandels auf den Jahreszyklus der Natur selbst dingfest machen.

Damit sind wir bereits mitten im Thema der Phänologie, die in Österreich inzwischen ein Stück faszinierender Wissenschaftsgeschichte zurückgelegt hat. Sie soll in diesem Beitrag an Hand der Hingabe und Begeisterung jener Persönlichkeiten nacherzählt werden, welche die phänologischen Beobachtungssysteme und Beobachtungspraxis wesentlich mitgestalteten. Dabei liegt der Fokus nicht so sehr auf deren wissenschaftlichen Leistungen, sondern auf dem Eifer und Einfallsreichtum bei der Einrichtung und dem Betrieb der phänologischen Beobachtungssysteme und der Anwerbung und Motivation der freiwilligen Beobachter. Gesellschaftliche, institutionelle und technische Entwicklungen gaben dafür den Handlungsspielraum während der 170-jährigen Zeitspanne von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis heute vor.

Um dem Leser einen gewissen Begriff von phänologischen Inhalten und Fragestellungen zu vermitteln, wird im folgenden Kapitel die Phänologie als Wissenschaft näher vorgestellt. Der geschichtliche Einstieg erfolgt mit der Gründung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1847, der k.k. Centralanstalt für Meteorologie und Erdmagnetismus 1851 und des ersten phänologischen Beobachtungsnetzes unter Karl Fritsch bis 1879 (erste Phase). Der Zeitraum zwischen den Aktivitäten von Karl Fritsch und dem Ende des Zweiten Weltkriegs war von sporadischen und kurzlebigen Messnetzen gekennzeichnet (zweite Phase). Unter Maria Roller und Friedrich Rosenkranz erfolgte die Gründung des aktuellen und heute noch aktiven phänologischen Beobachtungsnetzes ab 1946 (dritte Phase). In diese Periode fällt auch die höchste Stationsdichte von knapp 500 Stationen. Die geschichtliche Beschreibung schließt mit der aktuellen, vierten Phase ab 1987 und ihren massiven technischen Neuerungen. Zuletzt werden die skizzierten historischen Entwicklungen diskutiert und bewertet.

Zur Phänologie als Wissenschaft

Die Phänologie beschäftigt sich mit den periodisch wiederkehrenden Wachstums- und Entwicklungserscheinungen in der belebten Umwelt, wie beispielsweise dem Zeitpunkt der Entfaltung der Blätter der Laubbäume oder des Maitriebs der Fichte oder der Rückkehr der Zugvögel im Frühling, dem Beginn der Reife der Marille im Sommer oder dem Beginn der herbstlichen Blattfärbung. Dabei handelt es sich um Naturerscheinungen, die von vielen vielleicht noch bemerkt werden, aber für die meisten von keiner praktischen Bedeutung sind. Die ausgeprägte Jahresamplitude der Temperatur unserer Breiten stellt Pflanzen und Tiere hingegen vor existentielle Herausforderungen. Daher sind sie mit „Messsystemen“ ausgestattet, die es ihnen erlauben, den optimalen Zeitpunkt ihrer saisonalen Aktivitäten zu bestimmen. So wählen beispielsweise Bäume den Zeitpunkt, ihr Laub auszutreiben, spät genug, um das Risiko eines Frostschadens möglichst gering zu halten und gleichzeitig früh genug, um möglichst lang die warme Jahreszeit für ihr Wachstum auszunutzen. Das geschieht eben flexibel, in Abhängigkeit von der aktuellen Witterung und von der Tageslänge. Dadurch kann es zu recht beachtlichen Schwankungen der phänologischen Eintrittszeiten von Jahr zu Jahr kommen, vier Wochen und mehr sind möglich. Die diesem Verhalten zugrundeliegenden pflanzenphysiologischen Mechanismen werden noch wenig verstanden. Mittels molekularbiologischer Methoden bemüht man sich heute, den in den Pflanzen ablaufenden Stoffwechselvorgängen auf die Spur zu kommen.[3]

Bei der Phänologie handelt es sich auf den ersten Blick um eine wenig spektakuläre Wissenschaft, aus Sicht der Biologie mag sie wie ein etwas aufgeblähtes Nebenthema erscheinen. Sie verliert sich in ihrer Interdisziplinarität zwischen Biologie, Klimatologie und den Agrarwissenschaften. Aus Sicht der Atmosphärenwissenschaften konnte sie sich als Klimawandelindikator recht gut etablieren und spielt bei biogeochemischen Prozessen wie dem Kohlenstoffkreislauf und bei Austauschprozessen zwischen Vegetation und Atmosphäre eine gewisse Rolle.[4] Die Ökosystemforschung untersucht den Einfluss des Klimawandels auf die Synchronität der Nahrungskette, ob es beispielsweise durch den Klimawandel zu Verschiebungen zwischen dem Beginn des Laubaustriebes, der Eiablage und Entwicklung von Schmetterlingsraupen und den Brutzeitpunkt von Vögeln kommt.[5]

Die Anfänge der Phänologie

Der französische Entomologe René Antoine Ferchault de Réaumur (1683–1757) stellte in den Jahren 1734 und 1735 erste systematische Experimente zur Steuerung phänologischer Vorgänge durch die Lufttemperatur an.[6] Ihm gelang der Nachweis, dass eine gewisse Temperatursumme erreicht werden musste, damit das Getreide zur Reife gelangt. Wenig später schuf der schwedische Botaniker und Mediziner Carl von Linné (1707–1778) die Grundlage für die Phänologie als Wissenschaft. In seinem Opus Magnum, der »Philosophia Botanica«, empfahl er, phänologische Erscheinungen gemeinsam mit Wetterbeobachtungen an verschiedenen Orten gleichzeitig aufzuzeichnen: „Die Pflanzenkalender sind jährlich in jeder Provinz nach der Blattentfaltung, dem Aufblühen, der Fruchtreife und dem Blattfall unter gleichzeitiger Beobachtung des Klimas zusammenzustellen, so dass sich daraus die Verschiedenheit der Gegenden unter sich ergibt“[7]. Er erwartete sich durch einen Vergleich phänologischer Beobachtungen aus klimatisch unterschiedlichen Regionen Hinweise auf den Einfluss des Klimas auf den saisonalen Zyklus der Pflanzen. Es ist ihm dann auch gelungen, ein kleines Stationsnetz über drei Jahre in Schweden und Finnland zu betreiben.[8]

Abbildung 1 Karl von Linné (1707–1778)

In Anlehnung an Linné begründet die k.k. patriotische Gesellschaft im Königreich Böhmen 80 Jahre später die Errichtung und den Betrieb eines phänologischen Beobachtungsnetzes folgendermaßen: „Da gewisse Erscheinungen bei Pflanzen und Thieren vorzüglich geeignet sind, den Einfluss der Witterung, den Charakter des Jahrganges und das verschiedene Klima überhaupt zu bestimmen, z.B. das frühere oder spätere Erscheinen der Blüthe und Samenreife bei Pflanzen, den früher oder später eintretenden Winterschlaf und das Erwachen im Frühjahre bei einigen Thieren, so wie das verschiedene Erscheinen und Verschwinden der Zugvögel u.s.w. [...]“[9].

Mehrtägige Abschnitte mit unterschiedlichem Witterungscharakter steuern den Ablauf des phänologischen Zyklus von Pflanzen und Tieren in unseren Breiten, wobei kühlere Abschnitte die Entwicklung verzögern und wärmere die Entwicklung beschleunigen, woraus in Summe der phänologische Jahresgang resultiert. Zuletzt erfassen die unterschiedlichen phänologischen Eintrittszeiten die räumliche Gliederung der klimatischen Gegebenheiten einer Region.

Von der individuellen zur organisierten Beobachtung

Bis zur Einrichtung professionell geführter nationaler Wetterdienste wurden Wetter-, Klima- und phänologische Beobachtungen sporadisch von naturwissenschaftlich interessierten Laien notiert, ausgewertet und publiziert. Punktuell unterstützten adelige Höfe oder Klöster naturwissenschaftliche Aktivitäten. So begannen Chronisten am kaiserlichen Hof in Japan im 8. Jahrhundert das Eintrittsdatum der Kirschblüte aufzuzeichnen. Die japanische Kirschblütenreihe ist damit die weltweit längste phänologische Zeitreihe.[10] Der englische Naturliebhaber Robert Marsham notierte von 1736 bis 1797 phänologische Eintrittszeiten auf seinem Anwesen. Nach seinem Tod führten seine Nachfahren die phänologischen Reihen bis 1958 fort.[11] Die frühesten meteorologischen Reihen in Österreich stammen aus der klösterlichen Beschäftigung mit naturwissenschaftlichen Fragen. In Kremsmünster begannen die Mönche mit systematischen Wetteraufzeichnungen 1767. So notierte Abt Reslhuber ab 1842 phänologische Beobachtungen. In und um Wien wurde ab 1846 durch Anton Röll und Franz Löw die phänologische Entwicklung beobachtet, in Kärnten ab 1847 durch Johann Prettner.[12]

Genau in die Zeit der Anfänge phänologischer Beobachtungen in Österreich fällt die Gründung der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften im Jahr 1847. Mit ihr wurde ein institutioneller Rahmen geschaffen, der die Bedingungen für systematische naturwissenschaftliche Aktivitäten in Österreich erheblich verbesserte. Die Akademie bot eine Plattform nicht nur für den Austausch von Forschungsergebnissen, sondern auch zur Umsetzung von größeren naturwissenschaftlichen Infrastrukturprojekten, die sonst kaum zu realisieren gewesen wären.

Vermutlich war Andreas Freiherr v. Baumgartner nicht das einzige Mitglied der Akademie, das von einem zentral organisierten meteorologischen Beobachtungsnetz geträumt hat: „[…] dass es längst sein Wunsch gewesen sei, die an den Eisenbahnlinien bestehenden telegrafischen Stationen zur Anstellung meteorologischer Beobachtungen benützt zu sehen […]“[13]. Es ist kein Zufall, dass v. Baumgartner Eisenbahnlinien und telegrafische Stationen im Zusammenhang mit dem Wunsch nach einem meteorologischen Beobachtungsnetz erwähnte. Er selbst war beim Ausbau der Eisenbahn beteiligt und leitete die Einrichtung des ersten telegraphischen Netzes in Österreich.[14] Eine mehrfache Nutzung der modernsten, aber auch teuren technischen Infrastruktur half, die erheblichen Investitionen zusätzlich zu rechtfertigen. Das umso mehr, wenn es zugunsten der Wissenschaft geschah. Tatsächlich ist es der Akademie der Wissenschaften gelungen, mit der k.k. Centralanstalt für Meteorologie und Erdmagnetismus 1851 den weltweit ersten nationalen Wetterdienst zu gründen. Karl Kreil, bis dahin Direktor der Sternwarte in Prag, wurde als Direktor bestellt. Sein Assistent, Karl Fritsch, wurde ebenfalls von Prag nach Wien berufen. Die Investition in ein von einer „Centralstation“ einheitlich organisiertes Messnetz zahlte sich vielfach aus.

Die frühen phänologischen Reihen sind schwer miteinander zu harmonisieren, da jeder, der die Bedeutung und Wichtigkeit des Themas erfasst hatte, nach eigenem Gutdünken und eigenen Regeln sich die zu beobachtenden Pflanzen- und Tierarten und phänologischen Phasen zurechtlegte. Eine der wichtigen Aufgaben der „Centralstation“ bestand in der Normierung des Beobachtungssystems, also die Schaffung von einheitlich vergleichbaren Instrumenten und Beobachtungsanleitungen für die Meteorologie, Letzteres auch für die Phänologie.