„Alle Blümchen sind schon da“ – Vom Wert der Phänologie

Ob Veilchen, Kirsche oder Marille, deren Blüten werden als Fixpunkte im Jahreslauf wahrgenommen. Immer früher eintretende Blüten belegen – langfristig betrachtet – den Klimawandel.

Im Gastblog blickt Thomas Hofmann, Geologe und Bibliothekar auf 190 Jahre Phänologieforschung zurück, die es ohne Citizen Science nicht gäbe.

Wer im mittelalterlichen Wien das erste blühende Veilchen fand, durfte jubeln. „Unverzüglich ließ der Herzog nach altem Brauch den festlichen Zug zum Pflücken des ersten Veilchens einberufen und zog, begleitet von Musik in Gesellschaft fröhlicher Herren und Frauen und gefolgt von einer großen Schar neugieriger Städter, zum Fundort, um das Veilchenfest einzuleiten“, erzählt eine alte Wiener Sage. Mit diesem Frühlingsbrauch sind wir im 14. Jahrhundert, bei Herzog Otto III., dem Fröhlichen. Seit alters her sind das Ende des Winters und die ersten blühenden Blumen ein willkommener Anlass zu feiern. Eines der größten Veilchenfeste der jüngeren Vergangenheit fand am 20. und 21. Mai 1905 im Dreherpark, einem einstigen Vergnügungsetablissement in Wien Meidling (Schönbrunner Straße 307) statt. Der späte Termin, lange nach der ersten Veilchenblüte, wurde gewählt, weil man sich schönes Wetter erhoffte. Mitnichten, der erste Tag war verregnet. Trotzdem kamen mehr als 5.000 Leute, um dem historischen Spektakel mit berittenen Fanfarenbläsern und mehr als 200 kostümierten Personen beizuwohnen. Geriet das Altwiener Frühlingsfest in Vergessenheit, ist heute – um einen anderen Frühlingsbrauch zu nennen – das japanische Kirschblütenfest im fernen Nippon in aller Munde.

Das Veilchenfest am 20. und 21. Mai 1905 im Dreherpark (Wien Meidling) knüpfte an alte Traditionen an. © Archiv Hofmann

Naturgemäß hängt der Beginn von Blüten von Standort, Temperatur, Schneelage, um nur einige Parameter zu nennen, ab. Im Jahreslauf haben die markanten Fixpunkte der Vegetation seit Jahrhunderten große Bedeutung. Im Rückblick lässt sich damit der Wandel des Klimas rekonstruieren.

1835: Beginn systematischer Blütenbeobachtungen

Der Beginn der wissenschaftlichen Disziplin der systematischen Pflanzenbeobachtung, der Phänologie, führt nach Prag in die Zeit des Biedermeier. Am 16. August 1812 wurde dort Karl Fritsch geboren. Er war noch als Kind sehr naturinteressiert. „Täglich lief ich nach der Schule zum Flusse (der Moldau) und weidete meine Augen an dem mit ihrem Steigen und Fallen verbundenen Wellenspiele. […] Ich jagte Schmetterlingen nach und fing Käfer.“ Doch aus dem jungen Karl wurde weder Hydrologe noch Entomologe, vielmehr wurde er als Meteorologe zusammen mit Karl Kreil (1798 bis 1862) im Sommer 1851 zum Mitbegründer der Centralanstalt für meteorologische und magnetische Beobachtungen (heute: GeoSphere Austria).

Karl Fritsch in jungen Jahren und im reifen Alter. © Fam. Mudri-Raninger

Bis zum Gründungsjahr hatte Fritsch schon über 15 Jahre penible Aufzeichnungen im Jahreslauf der Pflanzenwelt geführt und 1847 publiziert. Anlass für seine Aufzeichnungen war der milde Winter des Jahres 1834 („unerhörte Temperatur von + 11°“ am 24. Jänner 1834) in Prag. So kam er auf „den Gedanken, in einem Tagebuche alljährlich die Tage anzumerken, an welchen gewisse Pflanzen zu blühen anfingen.“ 190 Jahre später hätte Fritsch, der am 26. Dezember 1879 in Salzburg verstarb, in Wien den ersten Februar ohne Frosttage erlebt.

Die frühe Blüte der Phänologie

Beschrieb der junge Fritsch in den 1830er Jahren nur den Blühbeginn von mehr als 80 Pflanzenarten von Ahorn bis Veilchen, die im Zeitraum März bis Mitte Juni (Wiesenglockenblume) blühen, dehnte er ab 1840 seine Aufzeichnungen auf mehrere Vegetationsstadien aus. Ziel waren Daten aus dem Jahreslauf, um Vergleiche über länger Zeiträume machen zu können. Dazu Fritsch im Originalwortlaut: „Es sind die Stadien der Blattknospen-, Blätter-, Blüthenknospen-, Blüthen- und Frucht-Entwicklung. Ferner die Stadien der Fruchtreife, Farbenänderung und des Laubfalles.“ Das war richtungsweisend. „Fritsch hatte wichtige Phasen der Vegetation in seine Beobachtungen aufgenommen, die wir heute noch registrieren“, betonen Helfried Scheifinger und Thomas Hübner, Phänologen an der GeoSphere Austria.

Aufzeichnungen von Karl Fritsch aus dem Botanischen Garten in Wien von 1855. © Fam. Mudri-Raninger / GeoSphere Austria

Fritsch verstand es – ausgehend von seinen Einzelbeobachtungen – ein Netz von Beobachtern in der Monarchie für seine Beobachtungen zu gewinnen. Die Weltumsegelung der Fregatte Novara (1857 bis 1859), die von einem dichten wissenschaftlichen Forschungsprogramm begleitet war, nahm er zum Anlass, im globalen Kontext aufzuziegen. Er bat nicht nur den Tag der „ersten vollständig entwickelten Blüthen“ und den der „ersten vollständig reifen Früchte“ aller (!) Pflanzenarten zu notieren. Er wollte auch von „Thieren, welche an einem bestimmten Orte alljährlich periodisch ankommen“ den Tag des ersten Erscheinens und des vollständigen Abzuges wissen. Damit hatte Fritsch neben der Botanik auch bei der Fauna seinen Fuß in der Tür. Er sah Entwicklungspotential. „Es gibt vielleicht kein Feld naturwissenschaftlicher Thätigkeit, auf welchem bei der gegenwärtigen grossartigen Entwickelung der meisten Zweige derselben, eine grössere Ausbeute zu hoffen ist.“

Neustart der Phänologie nach dem Ende des Weltkriegs

Die ambitionierten Forschungen von Fritsch, der sich bis zu seinem Lebensende 1879 mit großem Eifer betrieb, erlebten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs neuen Aufschwung. Im Jahr 1946 begannen an der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik (ZAMG) systematisch phänologische Beobachtungen und Aufzeichnungen. Engagierte Beobachter notierten im Jahreslauf ihre „Beobachtungen an Pflanzen“ auf vorgedruckten A4 Blättern.

Phänologischer Erhebungsbogen mit Beobachtungen aus Litschau (Niederösterreich) von 1971. © GeoSphere Austria

Beginnend mit Vor-, Erst- und Vollfrühling (Wein blüht) über Früh-, Hoch- und Spätsommer (Herbstzeitlose blüht) bis hin zu Früh- und Vollherbst (Roßkastanie reif, Früchte platzen). Insgesamt wurden über 70 Stadien der Vegetation abgefragt. Das Spektrum der Pflanzen reichte von Blumen über Sträucher, Bäume und Getreide bis hin zu Wein. Auch die erste Mahd und die Weinlese waren ein Thema. Seit 2006 erfolgen die Einträge über ein Phänologie-Portal, dem Naturkalender samt eigens entwickelter APP. In einem eigens angelegten Phänologischen Garten auf der Hohen Warte in Wien Döbling, dem Sitz der GeoSphere Austria, wurden die wichtigsten phänologischen Zeigerpflanzen angepflanzt.

Die Salweide gehört zu den früh blühenden Zeigerpflanzen im Phänologischen Garten der GeoSphere Austria auf der Hohen Warte in Wien Döbling. © GeoSphere Austria

Phänologie-Spiegel: Bestätigung des Klimawandels

„Um Aussagen über das Klima machen zu können, brauchen wir Daten über eine Klimanormalperiode, das entspricht einem Beobachtungszeitraum von 30 Jahren“, so Helfried Scheifinger. In dem Zusammenhang lohnt ein Blick auf den im Web verfügbaren Phänologie-Spiegel. Vor allem die aktuelle Übersicht in der Rubrik Kalenderjahr zeigt die Veränderungen der Vegetation beginnend mit den Beobachtungen von 1946 bis zum heutigen Tag. Die Beobachtungen vom Blühbeginn des Schneeglöckchens bis zur Blattverfärbung des Apfels jeweils im Verglich mit der Klimanormalperiode von 1991 bis 2020 zeigen eindrucksvoll den immer früheren Beginn der Vegetation.

Für ein aktuelles Beispiel, ein Blick auf das noch junge Jahr 2024, mit einem der wärmsten Winter der Messgeschichte. Die dunkelrote Farbe bei der Marillenblüte besagt: „extrem frühes Eintrittsdatum“ auch hellrot (früheres Eintrittsdatum) und mittelrot (deutlich früheres Eintrittsdatum) signalisieren eindeutig: Die Pflanzen sind zu früh dran. Ein Blick zurück ins Jahr 1964, dem Geburtsjahr des Autors, zeigt ein anderes Bild: die blauen Farben stehen für späteres oder deutlich späteres Eintrittsdatum.

Blüte der Pflanzen korreliert mit Temperatur

„Die phänologische Auswertung belegt den Klimawandel mit der Verschiebung der Übergangsjahreszeiten Richtung Sommer und Winter; vor allem der Frühling wird immer länger“, so Hübl und Scheifinger. Vergleicht man etwa die Holunderblüte mit den Messwerten der Temperaturkurve, zeigt sich eine klare Abhängigkeit. Generell korreliert die Blüte im mitteleuropäischen Raum mit den Temperaturwerten. Im mediterranen Raum würde als weiterer Faktor bei der Vegetation noch der Niederschlag dazukommen.

Die Holunderblüte (rote Kurve) korrelierte mit der Temperaturkurve (schwarz), die seit 1955 einen klaren Aufwärtstrend zeigt. © GeoSphere Austria

Die Koppelung der Vegetation mit der Temperatur erlaubt – ausgehend von Vegetationsbeobachtungen – retrospektive Rückschlüsse auf die Temperatur, als es noch keine Aufzeichnungen von Messungen gab. Proxydaten wäre der korrekte Fachterminus für die Aufzeichnungen der Vegetationsparameter. Anders gesagt: Die über viele Jahre gesammelten Daten der Freiwilligen belegen den Klimawandel unabhängig von instrumentellen Messdaten.

Einmal mehr ist dafür den vielen Beobachterinnen und Beobachter zu danken.

 

Dieser Artikel ist für das Blog: Wissenschaftsgeschichte(n) von DerStandard geschrieben worden.

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